CELLE. Wie Richter zu Entscheidungen kommen, darum geht es in der `Woche der Gerechtigkeit´, in der niedersächsische Sozialgerichte ihre Türen öffnen. Richter simulieren reale Gerichtsverhandlungen und laden Schüler dazu ein, sich der Frage zu stellen: „Wie würdest du entscheiden?“
„Bei uns geht keiner ins Gefängnis.“
Am Montagmorgen war eine zehnte Klasse des KAV Gymnasiums im Landessozialgericht in Celle zu Besuch. „Bei uns geht keiner ins Gefängnis“, sagte Richter Christian Lauenstein in der kurzen Einführung, „an den Sozialgerichten geht es darum, dass ein Bürger gegen eine Behörde klagt: Krankenkassen, Rentenversicherung, alles, was mit sozialer Sicherung zu tun hat.“ Dabei sei das Landessozialgericht die zweite Instanz. Hier kommen die Fälle zur Verhandlung, die an einem Sozialgericht (in erster Instanz) entschieden wurden – und eine Partei ist mit dem Ausgang unzufrieden.
Ist krankhafte Haarlosigkeit zumutbar oder nicht?
Im ersten Fall ging es um einen 65-Jährigen mit krankhaft bedingter Haarlosigkeit. Schon seit 30 Jahren bezahlt die Krankenkasse seine Perücken; mit 65 soll jetzt Schluss sein mit der Kostenübernahme. Dagegen hatte der Mann geklagt – und in erster Instanz Recht bekommen. Jetzt wehrt sich die Krankenkasse. Argumente gingen hin und her. Von `entstellender Wirkung´ der Erkrankung ist auf der einen Seite die Rede und von starker psychischer Belastung. „Mein Mandant geht nur mit Kopfbedeckung vor die Tür – wenn er sich überhaupt in die Öffentlichkeit wagt“, legte Richter Michael Phieler in der Rolle des Anwalts dar. Und was sei mit der Gleichbehandlung? Bei Frauen würde die Krankenkasse Perücken-Kosten schließlich übernehmen.
„Manche tragen freiwillig Glatze – und werden dafür gefeiert.“
Richter Dr. Henning Knopp in der Rolle des Vertreters der Krankenkasse zeigte sich unbeeindruckt: Der Kläger sei nicht in dem Sinne krank, nicht arbeitsunfähig und man könne gegen den Haarausfall auch nichts tun. „Schauen Sie sich Leute wie Vin Diesel oder Dwayne Johnson an, die freiwillig Glatze tragen – und dafür sogar gefeiert werden.“ Schließlich müsse die Krankenkasse die Kosten im Blick behalten, die von der Solidargemeinschaft bezahlt werden.
Ein schwieriger Fall
Im zweiten Fall war es schwieriger: Kläger war ein todkranker vierjähriger Junge (beziehungsweise seine Eltern), der ein nicht zugelassenes Medikament bekommen soll, dessen Wirksamkeit wissenschaftlich gegenwärtig nicht bewiesen ist. 5000 Euro kostet dieses monatlich, bisher zahlen die Eltern selbst. Die Kinderärztin befürwortet die Behandlung; sie und die Eltern `meinen´ eine positive Wirkung zu erkennen. Der Vertreter der Krankenkasse dagegen war von der Wirkung nicht überzeugt: „Es gibt keine Studien, Nebenwirkungen sind völlig unklar, eine Kostenübernahme können wir nicht sehen.“
Was Schüler gerecht finden … und wieso
Am Ende der Verhandlungen entscheiden die Schüler, anonym. In beiden Fällen votieren sie für eine Kostenübernahme – obwohl sie in ihren Argumentationen auch nach der Wirtschaftlichkeit fragen. Hinterher erfahren sie, dass das Landessozialgericht tatsächlich anders entschieden und sich jedes Mal auf die Seite der Krankenkasse gestellt hatte.
CelleHeute wollte zum Abschluss wissen: Wie viele Schüler ließen sich in ihrer Einschätzung durch die erörterten Argumente beeindrucken? Nach dem ersten Fall gingen fünf Hände hoch, nach dem zweiten keine einzige. Was gerecht ist, hat bei den Schülern weniger mit dem Kopf als dem Bauch zu tun. Andererseits wurde in den jeweiligen Argumenten deutlich: Richter sind auch Menschen. Wer weiß, welche Entscheidung an einem anderen Landessozialgericht gefallen wäre? Einer der drei Richter bringt es auf den Punkt: "Jura ist kein Mathe!"
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