CELLE. Sigmar Gabriel fürchtet nur zwei Dinge: die Presse und seine Töchter. Ansonsten ist er überzeugt: Es gibt nicht nur eine "Zeitenwende", nein, "das europäische Zeitalter ist vorbei. Fast 600 Jahre ging die Welt von Europa aus, im Guten wie im Schlechten. Der Atlantik war das Gravitationszentrum der Welt, aber auch das ist vorbei. Das nenne ich die Zeitenwende, jetzt ist der Indopazifik das Zentrum. Dort gibt es fünf Nuklearmächte mit Atomwaffen. Die Amerikaner haben's gemerkt, nur wir nicht." Auf Einladung des Celler SPD-Landtagskandidaten Christoph Engelen sprach der ehemalige Außenminister und niedersächsische Ministerpräsident im fast voll besetzten "Celle-Saal" in der Congress Union vor rund 90 Interessierten. Angekündigt war ein Gespräch mit Engelen, außerdem ein Pressetermin - doch beides scheute der Politiker. Lieber hielt er einen von Fragen ungestörten Vortrag, bei dem er seine Sicht auf die Welt darlegte - und sparte dabei nicht an Kritik an sich selbst und plauderte auch mal aus dem Nähkästchen. So zitierte er etwas ein Gespräch zwischen der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, an dem er als Bundesaußenminister teilgenommen habe.
Merkel habe Putin auf den Donbass-Krieg angesprochen, dass dort russische Kämpfer im Einsatz seien. Putins Erklärungsversuch: "Das sind nicht unsere Soldaten, sie tragen keine Uniform. Sie fahren im Urlaub da hin." Merkel habe gekontert: "Ja, das kenne ich. Das machen unsere deutschen Soldaten auch immer so. Packen ihre Waffen ein und los gehts." Auf Putins Frage, ob Merkel ihn verschaukeln wolle, habe Merkel gekontert: "Ich nicht."
"Wir haben uns zu lange mit uns selbst beschäftigt", so Gabriel, dennoch sieht er in dieser Krise China und Deutschland als die großen Gewinner der Globalisierung. "Wir sind wie kein anderes Land der Erde in die Wertschöpfung der Welt integriert. Aber die Wertschöpfungsketten funktionieren nicht mehr wie bisher. Das merken wir auch an der Pandemie."
"Eine Welt ohne Ordnung"
Nicht G7, sondern G0, zitiert der SPD-Politiker den amerikanischen Politikwissenschaftler Ian Brammer: Wir leben in einer "Welt ohne Ordnung". Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin eine günstige Gelegenheit, Russland wieder als Weltmacht zu etablieren. "Amerika ist mit sich selbst beschäftigt, Europa ist gestresst und gespalten zwischen Süd und Nord," eine optimale Chance für Putin.
"Zurück ins Zarenreich"
Seit 1991 sei Russland auf eine "Tankstelle" herabgesunken, als reiner Energielieferant ohne Einfluss auf Europa. Das wolle Putin rückgängig machen. "Die NATO ist nicht der Grund, die ist ihm nicht auf den Pelz gerückt. In den Ost-Staaten gibt es keine Waffen und keine Truppen der NATO, mit Ausnahme des Baltikum", so Gabriel. Die Rede Putins zum Krieg in der Ukraine ist die Rede eines weißen Generals, eines Generals des Zarenreichs, dorthin will Putin zurück." Die Ukraine interessiere die Amerikaner bisher nicht. "Das ist euer Problem", habe man ihm auf dem G7 Treffen in seiner Zeit als Außenminister gesagt. Man wisse heute nicht, wie sich Amerika verhält. "Die Ukrainer sind bereits, mit ihrem Leben die Freiheit zu verteidigen. Afrika steht vor einer neuen Hungerkatastrophe, Zig Tonnen Weizen liegen in Läger und können nicht ausgeliefert werden. Wir werden die nächste Flüchtlingswelle erhalten, weil sie sonst verhungern", blickt er in die Zukunft. Steigende Energiepreise seien im Westen ein Problem, aber "es gibt Länder, die arm sind, für diese bedeuten hohe Energiepreise eine Katastrophe. China ist sich nicht so ganz einig, wie es auf diesen Krieg reagieren soll: Die Nationalisten sagen, endlich fallen uns die Russen wie eine reife Frucht in den Schoß. Die Internationalisten sind vorsichtig: Wenn dieser Krieg dazu führt, dass die Weltwirtschaft gestört wird, schadet das auch China. Der chinesische Traum vom Wohlstand für alle ist in Gefahr. Es gibt Proteste, Demonstrationen gegen die Regierung. Eine Weltwirtschaftskrise ist das letzte, was China braucht. Die Lage ist instabil", beobachtet der gebürtige Niedersachse die Situation.
"Vielen Ländern ist der Krieg egal"
"Ich denke nicht, dass wir schnell einen Waffenstillstand oder einen Frieden sehen werden. Wir machen einen Fehler und nennen das einen Konflikt zwischen Russland und dem Westen. Es gibt aber viele Länder auf der Welt, für die das egal ist und sich fragen. 'Was haben wir den beiden Imperialisten zu tun?'" Er hoffe, dass der internationale Druck dazu führe, dass Russland sich verhandlungsbereit zeigt., aber das würde aus seiner Sicht noch "lange dauern."
"Europäer wollen beim Masters Golf Turnier mitspielen, können aber nicht mal Minigolf"
Es drohe ein neuer eiserner Vorhang, gefährlicher als der alte Vorhang. "Der alte war wahrlich nicht bequem, aber im Kalten Krieg wusste jeder, wie man sich verhalten müsse, das war kalkulierbar. Davon haben wir derzeit nichts. Was uns droht, dass der nächste amerikanische Präsident vielleicht doch der Überzeugung ist, dass er sich um China zu kümmern hätte, nicht um Europa. Und die Europäer wollen beim Masters Golf Turnier mitspielen, können aber nicht mal Minigolf", so der 62-Jährige. "Wenn wir nicht mal ein Freihandelsabkommen mit Kanada schaffen, wer will mir erzählen, dass wir eine europäische Armee hinbekommen? Ich bin schon froh, wenn wir eine gemeinsame Außenpolitik hinbekämen. Wir werden Europa verändern müssen, es wird sich nicht nur um Wirtschaft kümmern dürfen. Wir waren der Überzeugung, dass enge wirtschaftliche Beziehungen, Frieden sichert, das lehrte uns die Erfahrung. Die Idee haben wir auch auf die Sowjetunion und Russland übertragen, und das war wohl unser Fehler. Wir dachten: 'Wenn einer eine Pipeline baut, dann wird er keinen Krieg anzetteln.' Die Polen haben uns gewarnt, auch mich. Und wir antworten: 'Wir verstehen euch', aber eigentlich haben wir gemeint: 'Wir wissen es besser'. Die Weltformel hieß übrigens nie Wandel durch Handel, sondern Wandel durch Annäherung. Daran lag der Fehler."
Es werde viel an der SPD festgemacht, obwohl auch andere Schuld daran seien, "aber dann ist das so. Je eher wir uns damit beschäftigen, desto eher sind wir durch damit. Aber im Grund ist es ein deutsches Problem", ist Gabriel überzeugt.
"Wir haben es bisher immer geschafft."
"Das Gute an der Neuen Welt?", fragt Gabriel - "Wir haben es bisher immer geschafft. Die EU ist unmittelbar nach Ausschwitz enstanden. Kurz nachdem wir in Nachbarländer eingefallen war, brauchten wir nicht mal eine Generation, um aus erbitterter Feindschaft zu Partnern und Freunden zu werden. Das ist ein ziemlich großes Hoffnungszeichen, zu was Menschen in der Lage sind, wenn sie es wirklich wollen. Die Chance bekommen wir nun zum zweiten Mal."
"Die Mehrheit merkt die Sanktionen gar nicht - die ist sowieso arm"
Es belaste ihn "ungeheuer", was wir in Europa erleben. "Das haben wir, auch ich, nicht klug genug eingeschätzt. Ich hoffe, dass ich den Tag noch erlebe, dass wir auf der russischen Seite seriöse Partner haben - aber ich bin mir nicht sicher. Die Sanktionen wirken bei den Reichen in Russland, aber nicht bei den Armen - und von denen gibt es viel mehr, weil sie sowieso arm sind. Die merken die Sanktionen nicht. Ich vermute, dass wir vor einer langen Eiszeit stehen."
China habe derweil eigene Probleme, auch durch die Ein-Kind-Politik. "Erst wird China alt, bevor China reich wird, glaubt Gabriel. Es spreche viel dafür, dass das Land die Finger von einem Krieg lässt, "aber wenn der Amerikaner Taiwan anerkennt, könnte es schiefgehen."
"Erst Hobby-Virologen, jetzt Hobby-Generäle"
Auf die Frage nach schweren Waffen ins Kriegsgebiet fragt sich der Publizist, was eigentlich schwere Waffen seien. "Vorher hatten wir Hobby-Virologen, jetzt haben wir Hobby-Generäle. Ich maße mir nicht an zu wissen, was man in der Ukraine wirklich braucht. Ich kann Ihnen nicht erklären, warum der eine Panzer besser ist als der andere - aber ich muss denen vertrauen, die sich damit auskennen. Kriegsdienstverweigerer gehören jedenfalls nicht dazu." "Wenn wir in den Krieg eintreten und er explodiert, ist damit der Ukraine auch nicht geholfen. Darum bin ich froh, dass wir einen besonnenen Kanzler haben. Und wer die innerparteilichen Streits zwischen Olaf Scholz und mir kennt, weiß, was es bedeutet, wenn ich ihm beipflichte."
"Mehr Interesse an Jonny Depps Rosenkrieg als am Ukraine-Krieg"
Gabriel sieht die einzige Lösung des Krieges, wenn der amerikanische Präsident Joe Biden mit Putin verhandelt - alle anderen nähme der russische Präsident ohnehin nicht ernst. Aber "die Amis sind mehr am Rosenkrieg zwischen Jonny Depp und seiner Frau interessiert als an der Ukraine - solange werden noch viele Menschen sterben. Ich glaube, dass weder Russland noch die USA in einen großen Krieg wollen, aber voraussehen können wir das nicht.
"Staaten haben keine Freunde - Schröder ist der Sündenbock"
Nach seinem Vortrag ließ der Politiker Raum für Nachfragen aus dem Publikum. Eine Zuhörerin kritisierte, dass der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder verpönt und ihm seine Errungenschaften aberkannt werde. Auch vor Gericht dürfe man verschiedene Anliegen nicht vermischen. Gabriel gesteht, dass Schröder zum Sündenbock gemacht werde. "Für Nordstream haben wir alle Verantwortung zu übernehmen, das ist nicht seine. Und zwischen 2005 und 2021 war Schröder nicht Kanzler in diesem Land. Die Bundeswehr wurde in dieser Zeit von der Union ruiniert, dass von Deutschland nun wirklich keine Gefahr mehr ausgeht". Aber: "Sie können nicht mit einem befreundet sein, der seine Nachbarn umbringt. Es ist ein Fehler zu übersehen, dass es nicht um Freundschaft geht, sondern um einen Repräsentanten des Staates. Staaten haben keine Freunde, Staaten haben Interessen. Wenn Sie Glück haben, passt beides zusammen. Können Sie als ehemaliger Regierungschef Deutschlands im Dienst einer fremden Macht arbeiten? Ich würde sagen: Nein."
Demokratie ist nicht deswegen gut, dass sie fehlerfrei sei, sondern "dass man Fehler ohne Gewalt korrigieren kann", so Gabriel abschließend. Weitere Fragen waren nicht möglich, aber etwas Zeit für wenige Signierungen seines inzwischen vier Jahre alten Buches ""Zeitenwende in der Weltpolitik". Denn "morgen ist Vatertag und meine Töchter wollen das unbedingt vorbereiten, ich muss deswegen schnell nach Hause". So ganz hält es ein Politiker eben nur selten durch, ehrlich zu bleiben. Aber wer möchte es sich schon mit seinen Töchtern verscherzen?