Kolumne Celle – ein Gedicht, Folge 9: »Schlossbergzwerge«
- CELLEHEUTE
- vor 2 Tagen
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Von Adson Ulkner Schertz
"Es gibt ja keine Kneipen mehr!" – Obwohl ein Kneipensterben in weiten Teilen Deutschlands in der Tat zu beklagen ist, kann man diesen Satz für Celle so pauschal nicht gelten lassen, gibt es doch zum Beispiel das Fünfgestirn aus Apotheke (kleiner), Glocke, Kro(h)ne, Engel (blauem) und Hirschen (braunem). (Lustiges Detail: Wenn man die fünf Adressen auf einem Stadtplan mit Geraden miteinander verbindet, entsteht eine fast symmetrische, nach Norden deutende Pfeilspitze.) Als bekanntlich menschenscheuer Zurückgezogener besuche ich diese feinen Gaststätten freilich nur sehr, sehr selten; während eines solchen raren Besuchs kürzlich in einem der fünf genannten Lokale aber traf ich einmal wieder auf ein wahres Original: Man nennt es bzw. ihn »Dreihundertund-Erwin« (wie wir sehen werden, hat er noch weitere Namen), und Dreihundertund-Erwin verdanke ich die Inspiration zu dem folgenden kleinen Reimgedichtchen. Ich stelle es hier voran und erzähle erst anschließend, wie es dazu kam, denn dafür werde ich etwas ausholen müssen. Das Gedicht also lautet:
[Schlossbergzwerge]
Tief im Schlossberg wohnen Zwerge
schon seit vielen hundert Jahren,
hausen heimlich in dem Berge,
wo sie ihren Schatz verwahren:
reichlich Diebesgut, in Nächten
aus der Menschenwelt gestohlen,
von den Guten, von den Schlechten.
Tippel, trippel, Stiefelsohlen
klitzekleiner Diebesbande:
Wackre Damen, brave Herren
unsrer schönen Celler Lande,
Türen solltet ihr versperren,
Fenster haltet gut verschlossen
gegen kurze lange Finger
jener bösen Gnomgenossen;
seid gescheite Zwergbezwinger!
Aha, soso. Bzw.: wie bitte?! Woher denn dieser märchenquatschige Quark? Na, wie gesagt: von Dreihundertund-Erwin! Das war nämlich so:

Ich saß an einem kleinen Tischchen ganz hinten in der schummrigen Ecke einer der fünf vorhin genannten Celler Kneipen, da setzte sich plötzlich Dreihundertund-Erwin, der hier quasi zum Inventar gehörte, zu mir. Andere Spitznamen für ihn lauten übrigens »Flunker-Kunde Nr. 1«, »Der Baron« (Münchhausens wegen), »Don Stussi«, »Nervin vom Pferd« und »Häuptling Braune Lippe«. Und es dauerte nicht lang, bis Erwin mir seine berühmt-berüchtigte und ihm seinen Hauptspitznamen gebende Geschichte auftischte: Er sei ja gar nicht nur knapp über 70 Jahre alt, sondern in Wahrheit dreihundertund-soundsovielundsiebzig! Ich sagte: »Was du nicht sagst, Erwin!«, denn ich hatte die Geschichte schon viele – wenn auch nicht dreihundertundsoundsoviele – Male gehört. Ja, sagte Erwin, er sei nämlich vor über dreihundert Jahren des Nachts »sozusagen in den Schlossberg gefallen«. Und zwar durch ein Loch, das sich jäh unter ihm aufgetan habe. Und zwar in eine Zwergenhöhle hinein sei er da gefallen, durch einen »ganz, ganz langen, sehr, sehr steilen Gang«, in eine Höhle, die »ganz, ganz tief unten« im Schlossberg gelegen habe – und die »noch heute darin liegt, verstehst du?!«. Das sei circa im Jahr 1686 gewesen, Georg Wilhelms Zeit. »Da war ich 33 Jahre jung!«
»Und wie fanden die Zwerge das so, dass du da so unerwartet bei denen reingepoltert bist, Erwin?«
»Fanden die gut!«
»Ja?«
»Ja, weil: Ich war ja 'ne Attraktion. Da hatten die jetzt mal 'n bisschen Abwechselung da unten in ihrem funzelschummrigen Stollen.«
»Soso, Erwin.«
Und die Zwerge hätten auch gar nicht zu verheimlichen versucht, dass sie eine Diebesbande waren (denn ja, ja, es seien Diebeszwerge gewesen); die hätten »irgendwie gespürt«, dass Erwin, selbst einiges auf dem Kerbholz habend, »irgendwie auf deren Seite« gewesen sei.
»Und dann hast du da also 300 Jahre unter Tage verbracht, drei Jahrhunderte unterm Schlossberg?«
»Nee! Drei Tage waren das ja nur da unten! 72 Stunden!«
»Nein! Wie das?« (Ich spielte den Verblüfften, denn ich kannte die Geschichte ja, wie gesagt, schon.)
»Die Zwerge wohnen sozusagen in einer Zeithöhle.« Erwin erhob einen Zeigefinger und setzte eine Gelehrtenmimik auf.
»Was?«, fragte ich scheinverdutzt.
»Ja, die leben da zeitunabhängig. Und die können unzählige Ausgänge, äh, generieren, aus ihrer Höhle raus. In die verschiedensten Jahrhunderte und Jahrzehnte und Jahre hinein!«
»Und der Ausgang, den sie für dich, ›äh, generiert‹ haben, der führte dann also nicht wieder ins Jahr 1686?«
»Nee. Ich kam 1986 raus. Ich vermute, die Heinzeldinger haben mich eiskalt verscheißert – und sich dann schön in die kleinen Fäustchen gelacht.«
Und Erwin erging sich dann natürlich im »absolut krassen Kulturschock«, den er somit erlitten habe: »Da waren ja plötzlich Automobile!«, »Und die Klamotten, in denen die Leute rumliefen!«, wie es ihm, als es Tag geworden war, schwer wundernahm , »Und gar kein Adel mehr da; der ganze schöne Absolutismus weg!« – usw. usf. … Ich war leider inzwischen zu müde geworden und fragte daher nicht weiter nach, wie es ihm als waschechten Barockmenschen denn letztlich gelungen sei, unter den Celler Bürgern und der Kultur der 1980er Jahre Fuß zu fassen, an einen Personalausweis zu kommen, einem Beruf nachzugehen, etc. Also tat Erwin abschließend bloß noch einmal kund: »1653 bin ich geboren! Ich bin schon dreihundertund!« – und dann ging er seiner verworrenen Wege und damit sukzessive auch auf das Jahr 2053 zu, wo er, wenn er nicht gestorben ist, seinen 400. Geburtstag feiern wird.
Wir aber, liebe Leser, haben für heute gelernt: Unterm Celler Schloss, tief im Schlossberg, wohnen diebische Zeitzwerge, vor denen wir uns vorsehen müssen!
(P.S.: In welcher der fünf Kneipen ich Erwin angetroffen habe, höre ich im Geiste manche Leser fragen? Tja, darauf kann ich nur antworten: alle Lokale abklappern und selbst nachsehen!)

An dieser Stelle erscheint vierzehntäglich, jeden zweiten Freitag, die Kolumne »Celle – ein Gedicht« von Adson Ulkner Schertz. Wir gehen davon aus, dass es sich bei dem Namen um ein – nun ja: ulkiges Pseudonym handelt. Die Kolumnentexte landen in analoger Form auf Papier bei uns im Redaktionsbriefkasten. Wir sind bemüht, jeden Text mit einem passenden Foto zu illustrieren. Der ersten Kolumne war als »Autorenfoto« dieses Bild beigefügt.