Kolumne Celle – ein Gedicht, Folge 4: »Franzi«

Von Adson Ulkner Schertz

Eigentlich hatte ich heute hier von meiner letzten Begegnung mit dem Akkordeonspieler am Südwall berichten wollen, doch dann fiel mir ein, dass ich vor jener noch zwei andere denkwürdige Erlebnisse hatte, und von diesen möchte ich zunächst erzählen. Dies ist das erste:

Alleen. Alleen und Blumen. Reichlich Bäume auch und ein kreisrunder Teich von beinahe 100 Metern Durchmesser, in dessen Mitte die Fontäne ihre Wasserstrahlen gen Himmel sprüht. Der Französische Garten (der längst schon, seit dem 19ten Jahrhundert nämlich, englisch-romantisch angelegt ist): Ich habe ihn wiederentdeckt als einen der sehr schönen Orte Celles und meist bin ich gern dort, weil man nicht selten seine Ruhe hat.

An jenem einen Tag aber – es wollte ein warmer Frühsommerabend werden, und ich saß auf einer Bank mit Blick auf das Teichrund – wurde es unerfreulich unruhig: Drei Mädchen von – tja, schwer zu schätzen heutzutage – jeweils vielleicht 14 Lebensjährchen meinten, sich auf einer Nebenbank niederlassen zu müssen. Das heißt: Zwei setzten sich, lässig lümmelnd, eine blieb vor ihnen stehen. Alle drei präsentierten in etwa die gleiche Uniform: streng mittelgescheiteltes Langhaar, Kunstwimpern wie Fächer aus schwarzen Messern, irgendwie sportive Kluft, obenrum eng, untenrum übergroß bollerbehost, neuweiß grell leuchtende Turnschuhe, groß wie Kindersärge. Und nun fing die eine, die stehende an, so komische Tanzbewegungen zu machen, wenig Beinbewegung, viel Hüfte –

und vor allem ganz, ganz viel Gestikuliererei (summa summarum eher ein rhytmisierter Posenwechsel als ein Tanz). Und dann kam eine Art Sprechgesang aus ihr, den sie vermutlich nachsang, denn in ihren Ohren steckten so weiße Stöpsel mit weißen Stängchen dran (wie eine Art Minifön ohne Kabel), und daraus drang vermutlich Musik in ihre Gehörgänge und schepperte auf ihre Trommelfelle ein. Ich wäre jetzt hier nicht in der Lage, den Sprechgesangtext zu rezitieren, wenn mir später nicht die 13jährige Nichte einer alten Bekannten geholfen hätte. Dieser Nichte brachte ich ein paar Bruchstücke und Wortfetzen vor, woraufhin sie ein bisschen Tipptipp und Wischwisch auf ihrer Körperergänzung namens »Handy« machte – und mir schon das Bildschirmchen mit dem ganzen Text hinhielt:

»Cozy Tracksuit, Ferragamo, Gucci-Belt, checkst du?

Meine Jeans True Religion, deine Meinung? F you! Checkst du? Keiner hat dich gefragt.

Und ich lass die Hater reden, weil das Serdar Abi sagt. [...]«

Ich verstand nahezu genauso wenig wie vorher am Parkteich – und ich weiß bis heute nicht, an welcher Schule man sein Serdar-Abi macht, und ob es wohl schwer ist, die Sache mit einem guten NC zu bestehen. Haha. (Ulkner Schertz der Name.) Am Teich des Französischen Gartens aber war eines jetzt ganz sicher gewesen: Dieses Sprechgesinge und Rumgepose und das schrille Zugejubele der anderen beiden (»Digga, Pyrotechnik! Sie's am Kochen!«, »Wyld, wallah, wyld! Darf sie so, Habibi?«) ging mir ziemlich zentnerschwer auf den Zeiger. Und weil mir nichts anderes einfiel, wie ich meine geliebte Ruhe wiederherstellen konnte, entschied ich mich dazu, den sehr minderbemittelten,

beinahe greisenhaften Mahnonkel mit Zombiezügen zu mimen. Vielleicht konnte ich sie so verscheuchen. Ich erhob mich also, nahm eine Gruselpose ein, setzte eine entgleiste Warnpredigermimik auf – und deklamierte spontan dichtend so:

[Franzi]

Lasst mahnen euch, ihr Celler Seelen,

ein Unheil haust in eurer schönsten Pracht,

das will euch eure Leben stehlen,

das reißt euch in die ewig schwarze Nacht!

Wenn abends ihr so ganz allein

im stillen Celler Garten geht,

zu lang am runden Teich rumsteht,

wird’s schnell um euch geschehen sein!

Bermudas Teufelsdreieck ist

in Celle kleiner Wasserkreis,

der schluckt das Kind, der schluckt den Greis –

so viele werden schon vermisst!

Es kreist im runden Franzpark-Teich

die mehr als hundert Meter lange

Franziska Megamonsterschlange;

ihr Wasser- ist ein Totenreich!

Pause. – Ich stand vogelscheuchenartig da, warnend auf den runden Teich zeigend. – Pause. – Die drei Mädels starrten mich an. – Pause. – Ich verharrte – und da verfielen die drei kakophonischen Jung-Sirenen unisono in ein herbe gehässiges Gelächter: »Haha, wie lost ist er denn?!«, »Was für ein ein NPC, Alter!«, »Ey Psychose, Koka-Schaden!«. – Aberimmerhin: Sie zogen dann wirklich ab, wackelnd vor Lebenslust und Schadenfreude, an Elektrozigaretten ziehend und üppige Rauchzeichen gebend, die ihren Sieg verkündeten.

Nun hatte ich wieder Ruhe auf meiner Bank. Und wie ich so dasaß und plötzlich dachte, dass das lebensprall laute, vollends jetzige Dasein jener drei Gegenwartsmädchen doch auch liebens- bis beneidenswert sei, schien es mir, als wabere da, dort etwas, kurz unter der Teichwasseroberfläche, und starre mich an: Und ja doch! Das war doch ein riesenhafter Schlangenkopf in Frontalperspektive! Und anscheinend lächelte das Tier mir zu, zwinkerte gar wie in gewiefter Komplizenschaft!

Tja, mich mag Franzi. Ihr Celler aber solltet euch vorsehen, euch hüten und in acht nehmen, wenn ihr dem Teich im Französischen Garten zu nah kommt! Am besten, ihr bleibt gleich ganz weg. Sicher ist sicher!

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An dieser Stelle erscheint vierzehntäglich, jeden zweiten Freitag, die Kolumne »Celle – ein Gedicht« von Adson Ulkner Schertz. Wir gehen davon aus, dass es sich bei dem Namen um ein – nun ja: ulkiges Pseudonym handelt. Die Kolumnentexte landen in analoger Form auf Papier bei uns im Redaktionsbriefkasten. Wir sind bemüht, jeden Text mit einem passenden Foto zu illustrieren. Der ersten Kolumne war als »Autorenfoto« dieses Bild beigefügt.