CELLE. Vielleicht spielt eine Rolle, dass das Tor generell verschlossen ist, ein Betreten einfach so nicht geht. Warum auch immer, das Interesse an diesem Ort ist überaus groß. Egal wer eine Führung anbietet oder welch anderer Anlass sich die Tore öffnen lässt, die Celler kommen, hören und schauen und zeigen sich stets beeindruckt.
Diese hohe Zahl an Besuchern ist das, was Peter Cunningham am erstaunlichsten findet an diesem Sonntag. Er ist Mitglied der Hebräisch-AG des Gymnasiums Ernestinum und wartet im Augenblick darauf, dass Teilnehmer zu ihm kommen und sich einen der Grabsteine auf dem Jüdischen Friedhof erklären lassen. Leiter der Arbeitsgemeinschaft, Altphilologe, Theologe und Pastor Dr. Dr. Friedrich Erich Dobberahn hat diese Erkläreinheiten zum Bestandteil seiner Führung über das 2.000 Quadratmeter große geschichtsträchtige Gelände mit 298 Gräbern gemacht. Der 73-Jährige nutzt die hebräischen Inschriften der Grabsteine als Unterrichtsgrundlage. „Das sind schriftgelehrte Arbeiten auf Grabstelen, das Hebräisch ist fehlerfrei“, sagt der frühere evangelische Pastor.
Peter Cunningham, Clemens Brückner und Hannes Grunwald haben gut zu tun, ihr Angebot trifft auf Resonanz, viele der rund 50 Teilnehmer wollen etwas erfahren über die Zeugnisse der Vergangenheit. Zwischendrin stehen die Jungens stellvertretend für den Rest der AG, die durchschnittlich zwischen acht und zehn Mitglieder hat, der Presse zur Verfügung und geben Auskunft, wieso sie Hebräisch lernen möchten bzw. warum sie sich angemeldet haben für das Friedhofsprojekt, wie der 18-jährige Peter es nennt. Die Andersartigkeit, „dieses scheinbare Chaos“ im Vergleich zu christlichen Begräbnisstätten faszinieren ihn. Jüdische Grabsteine stehen nicht in Reih und Glied nebeneinander. „Das symbolisiert den Tod als Einbruch. Ein Friedhof soll an die Vergänglichkeit, die Gefährdung unserer Welt erinnern“, hatte Friedrich Erich Dobberahn die leicht gewundene Ausrichtung der Steine erklärt. „Ich empfinde hier Demut und Respekt“, sagt der 17-jährige Clemens. Wie sein gleichaltriger Mitschüler Hannes hat er sich „schon immer für alte Sprachen interessiert.“ Hannes und Clemens haben Griechisch und Latein belegt. „Ach, dann nehme ich Hebräisch doch noch gleich mit“, dachte sich Hannes und meldete sich an. Dass sie durch den Unterricht viel lernen über die Kultur, die hinter dem Hebräischen steckt, gefällt allen dreien. „Die jüdische Kultur ist ja viel älter als die christliche, es ist schön, dass man in Celle vergleichen kann“, sagt Clemens.
Schulleiter Johannes Habekost ist stetig in Gespräche involviert, mit Klaus Didschies und Charles Sievers in ihren Funktionen als stellvertretender Oberbürgermeister bzw. Landrat sind sowohl die Stadt Celle, die für die Pflege des Friedhofs verantwortlich ist, sowie der Landkreis vertreten. Der Direktor des Ernestinums ist unverkennbar stolz auf die AG, ergänzt das Angebot des Hebräischen doch die altsprachliche Tradition des ältesten Gymnasiums der Stadt. „Seit 1990 wird es angeboten“, erläutert Uwe Winnacker, bis 2019 Lehrer am Ernestinum, Kunsthistoriker, Germanist und Theologe. Er ist im Thema, kann den Aufbau eines jüdischen Grabsteins so gut erklären wie Friedrich Erich Dobberahn. Eines der bemerkenswertesten Elemente sind die Eulogien, die Lobreden auf die Verstorbenen, die diese charakterisieren und über ihr Leben erzählen. Wohltätigkeit, Gottesfürchtigkeit und andere Attribute können ebenso Gegenstand der Eulogie sein wie Krankheit und Leiden.
Bis Anfang der 1950er Jahre fanden Beisetzungen auf dem Areal statt. Einer der jüngeren Grabsteine ist der für Rifka Rosenwasser, die Inschrift ist anders als bei zahlreichen der alten Stelen komplett auf Hebräisch verfasst, sie erzählt vom Holocaust, der „schrecklichen Shoah“, die das junge Mädchen, erst 19 Jahre alt, nur wenige Tage nach der Befreiung aus dem KZ Bergen-Belsen herausriss aus ihrem jungen Leben. „Das Blut der Ermordeten schreit zu Gott“, ist zu lesen. „Dieser hebräische Text gibt uns Hinweise, wie über den Genozid zu reden ist“, erläutert Dobberahn.
Wie alle anderen Teilnehmer nimmt Edith Klos alle Informationen mit größtem Interesse auf. Die Hambührenerin ist zum ersten Mal auf dem Friedhof, sie ist sehr beeindruckt, denn ihre Kenntnisse über die jüdische Vergangenheit und die Kultur wurden vertieft. „Ich habe sehr viel gelernt“, sagt sie am Ende der Veranstaltung und fügt mit Blick auf die Mitglieder der Hebräisch-AG hinzu: „Ich habe große Achtung vor den jungen Leuten!“