Kolumne Celle – ein Gedicht, Folge 15: »Bei Bäcker Pippel«
- CELLEHEUTE
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Von Adson Ulkner Schertz
Drei Celler Wohlgerüche sind mir bekannt: (1.) die leicht angebrannt dunklen Aromen in der Altstadt, wenn bei »Huth's« Kaffee geröstet wird; (2.) wie sich in der Luft um den Waldweg herum malzige Süße mit herber Würze mischt, wenn bei Carl Betz der Hopfen gekocht wird; (3.) der morgendliche Duft frisch gebackener Brötchen, der aus einer der letzten zwei, drei noch existierenden Handwerksbäckereien in die umliegenden Straßen dringt.
Diesen letzteren Geruch zu inhalieren, zieht es mich immer wieder nach Neuenhäusen in die Breite Straße und hier schnurstracks zur Hausnummer 30, Ecke Kirchstraße, diesem Baudenkmal aus hellem Fachwerk, mit goldener Brezel über dem Eingang. An Ort und Stelle arbeiten freundliche Menschen, und seit 1980 schon geht Bäcker Wilhelm Pippel seinem feinen Backhandwerk nach – nicht erst seit gestern ebenso Sohn Sven –, während des Seniorbäckers Frau gekonnt die Bücher führt. Außerdem kann man mitunter mit Pippels persönlich am Tisch in der Gastraumgemütlichkeit sitzen und sich unterhalten.
Dabei wird einem dann noch klarer, was eh schon klar war: Dies ist die seelenvolle Antithese zum Backshop-Zeitgeist. Und während man voll Behaglichkeit sein frisches Hörnchen in die Kaffeetasse tunkt, zitiert man innerlich aus Marcel Prousts »Suche nach der verlorenen Zeit«: »Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; […] Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen.« – Und etwas später dichtet man selbst dies:
Bei Bäcker Pippel
Auf der Liste dummer Modewörter
steht der ›Backshop‹ oben ganz bekloppt;
und der Kunde, der im Backshop shoppt,
ist womöglich geistig ein … Verwirrter.
Bäcker haben Stuben, nicht bloß Shops,
gute Stuben, durch die Herzblut fließt
in ein Backwerk, das man sehr genießt,
nicht nur kaut – und ex und hopps.
Auf der Suche nach verspielten Zeiten
zieht es mich zum alten Bäckerladen
wie an einem zarten roten Faden.
Was genau will mich da seiden leiten?
Glänzend taucht das Hörnchen in Kaffee,
Kindheitsechos kitzeln an den Nerven;
lächelnd muss man sich da unterwerfen,
und es fällt ein warmer Gesternschnee.
Und dieser Bäckerladen hier in der Breiten Straße ist ja tatsächlich eine Zeitkapsel, eine, in der reichlich Zeit der Marke ›gute alte‹ gespeichert ist. Die Einrichtung ist familiär kommod. Ein über dem Tresen hängendes Holzschild informiert in vierhebigen Jamben und Paarreim selbstbewusst: »Hier läuft die Ware nicht vom Band, / wir backen noch mit Herz und Hand.« Und was gebacken wird, schmeckt bestens. Die Inhaber berichten gern von der Geschichte des Hauses, das ganz zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts als ein Nachfolgebau einer Bäckerei errichtet wurde, die offenbar schon im späten siebzehnten Jahrhundert an dieser Stelle existiert hatte.

Hier ist man Mensch, hier darf man's sein. Hier kehrt man herzlich gerne ein. Im Herbst und im Winter sitze ich drinnen am Tisch, im Frühling und im Winter gern auch draußen im schönen Innenhof. Dann schreibe ich ein paar Verse, lese die Lokalzeitung und denke an früher – zum Beispiel daran, wie meine Großmutter, als ich Kind war, immer mit mir in eine alte Celler Bäckerei ging (war es Rönitz am Großen Plan?), ein Hörnchen zum Teilen für uns kaufte, dieses durchbrach, die zwei Hälften links und rechts an ihren Kopf hielt und mit finstrem Ton sprach: »Ich bin der Deiwel, da gibt es keinen Zweiwel!« Dann lachten wir, und sie gab mir die eine Hörnchenhälfte zum Essen. Ommas Running Gag.
Manchmal lese ich bei Pippels auch nicht bloß Tageszeitung, sondern wieder in Marcel Prousts Großroman – womöglich just diesen Absatz zum Niederknien (so müsste man selbst auch mal schreiben können!): »Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen.«
Mögen aber unsre Celler Pippels noch lange, lange leben und gesund sein und die Breite
Straße und die Stadt insgesamt bereichern mit seelenvollem Backhandwerk und aus der Zeit gefallener Gemütlichkeit – und Morgen um Morgen erfüllen mit dem Duft der vor Ort frisch gebackenen Brötchen!

An dieser Stelle erscheint vierzehntäglich, jeden zweiten Freitag, die Kolumne »Celle – ein Gedicht« von Adson Ulkner Schertz. Wir gehen davon aus, dass es sich bei dem Namen um ein – nun ja: ulkiges Pseudonym handelt. Die Kolumnentexte landen in analoger Form auf Papier bei uns im Redaktionsbriefkasten. Wir sind bemüht, jeden Text mit einem passenden Foto zu illustrieren. Der ersten Kolumne war als »Autorenfoto« dieses Bild beigefügt.














