BERLIN. 28 Erstunterzeichner schreiben einen Offenen Brief an Kanzler Scholz, unter ihnen Ranga Yogeshwar, Alice Schwarzer oder Dieter Nuhr. Inzwischen haben ihn mehr als 175000 Menschen ebenfalls unterzeichnet (Stand 2.5.2022). Sie befürworten seine Besonnenheit und warnen vor einem 3. Weltkrieg. Weitere Unterschriften sind über "change.org" möglich.
Der vollständige Brief unzensiert und unkommentiert.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
wir begrüßen, dass Sie bisher so genau die Risiken bedacht hatten: das Risiko der Ausbreitung des Krieges innerhalb der Ukraine; das Risiko einer Ausweitung auf ganz Europa; ja, das Risiko eines 3. Weltkrieges. Wir hoffen darum, dass Sie sich auf Ihre ursprüngliche Position besinnen und nicht, weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern. Wir bitten Sie im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.
Wir teilen das Urteil über die russische Aggression als Bruch der Grundnorm des Völkerrechts. Wir teilen auch die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Doch alles, was sich daraus ableiten lässt, hat Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik.
Zwei solche Grenzlinien sind nach unserer Überzeugung jetzt erreicht: Erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen. Und ein russischer Gegenschlag könnte so dann den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen. Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.
Wir warnen vor einem zweifachen Irrtum: Zum einen, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern. Und zum andern, dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren „Kosten“ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.
Die unter Druck stattfindende eskalierende Aufrüstung könnte der Beginn einer weltweiten Rüstungsspirale mit katastrophalen Konsequenzen sein, nicht zuletzt auch für die globale Gesundheit und den Klimawandel. Es gilt, bei allen Unterschieden, einen weltweiten Frieden anzustreben. Der europäische Ansatz der gemeinsamen Vielfalt ist hierfür ein Vorbild.
Wir sind, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, überzeugt, dass gerade der Regierungschef von Deutschland entscheidend zu einer Lösung beitragen kann, die auch vor dem Urteil der Geschichte Bestand hat. Nicht nur mit Blick auf unsere heutige (Wirtschafts)Macht, sondern auch in Anbetracht unserer historischen Verantwortung - und in der Hoffnung auf eine gemeinsame friedliche Zukunft.
Wir hoffen und zählen auf Sie! Hochachtungsvoll
DIE ERSTUNTERZEICHNERiNNEN
Andreas Dresen, Filmemacher Lars Eidinger, Schauspieler Dr. Svenja Flaßpöhler, Philosophin Prof. Dr. Elisa Hoven, Strafrechtlerin Alexander Kluge, Intellektueller Heinz Mack, Bildhauer Gisela Marx, Filmproduzentin Prof. Dr. Reinhard Merkel, Strafrechtler und Rechtsphilosoph Prof. Dr. Wolfgang Merkel, Politikwissenschaftler Reinhard Mey, Musiker Dieter Nuhr, Kabarettist Gerhard Polt, Kabarettist Helke Sander, Filmemacherin HA Schult, Künstler Alice Schwarzer, Journalistin Robert Seethaler, Schriftsteller Edgar Selge, Schauspieler Antje Vollmer, Theologin und grüne Politikerin Franziska Walser, Schauspielerin Martin Walser, Schriftsteller Prof. Dr. Peter Weibel, Kunst- und Medientheoretiker Christoph, Karl und Michael Well, Musiker Prof. Dr. Harald Welzer, Sozialpsychologe Ranga Yogeshwar, Wissenschaftsjournalist Juli Zeh, Schriftstellerin Prof. Dr. Siegfried Zielinski, Medientheoretiker WEITERE UNTERZEICHNERiNNEN
Renate Schmidt, SPD-Bundesministerin.a.D. Hasso von Henninges, Künstler Katja Lange-Müller, Schriftstellerin Katharina Fritsch, Künstlerin Franziska Becker, Cartoonistin Bettina Flitner, Fotografin und Autorin Prof. Klaus Staeck, Grafiker, Heidelberg Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, Philosoph, stellv. Vors. Dt. Ethikrat Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma Anna Maria Mühe, Schauspielerin Nina Gummich, Schauspielerin Prof. Anne-Kathrin Gummich, Schauspielprofessorin Moritz Netenjakob, Kabarettist Prof. Yuji Takeoka, Künstler Annegret Soltau, Bildende Künstlerin Dilek Zaptcioglu, Historikerin und Schriftstellerin Prof. Dr. Günter H. Seidler, Psychotraumatologe Hannelore Hippe, Schriftstellerin und Autorin Prof. Peter Bialobrzeski, Fotograf Prof. Dr. Thomas Martin Buck, Mediävist Milan Sladek, Pantomime Emine Sevgi Özdamar, Schriftstellerin Angelika Mallmann, EMMA-Redakteurin Margitta Hösel, EMMA-Redakteurin Anett Keller, EMMA-Verlagsleiterin Chantal Louis, EMMA-Redakteurin Annika Ross, EMMA-Redakteurin Oliver Schnare, Angestellter Brigitte Kamps-Kosfeld, Sozialwissenschaftlerin Heide Schnitzer, Reutlingen Axel Beck, Petershagen Prof. Dr. Anne-Gret Luzens, Mathematikerin (im Ruhestand) Günter Luzens, Dipl.-Ing. (im Ruhestand) u.v.m, siehe "change.org"