Predigt am Ostersonntag. 9. April 2023 in Nienhagen (Johannes 20, 11-18)
Als in der vergangenen Woche ein wichtiges Arztgespräch in Hamburg anstand, meine 85jährige Mutter liegt im Krankenhaus, hat Rena, meine Frau, mich begleitet. Wir beide wissen: Immer, wenn Gespräche mit großer Tragweite anstehen, ist es gut, wenn mehr als nur zwei Ohren zuhören. Zu oft haben wir schon erlebt, dass einer allein nicht alles mitbekommt, was wichtig ist. Auf der Fahrt nach Hause haben wir das Gehörte rekapituliert und versucht, auf den Punkt zu bringen, was die Ärzte medizinisch noch für „möglich“ halten. Leider ist es nicht so viel, wie wir gehofft hatten.
Ich bin mir sicher, Sie kennen das: Wir können manchmal mit unseren Augen etwas sehen – und nehmen das Entscheidende doch nicht wahr. Wir können manchmal mit unseren Ohren etwas hören – und überhören doch das Wichtigste.
So ist es Maria aus Magdala am Ostermorgen gegangen. Bis ihr schließlich ein Licht aufgegangen ist - und sie als erste aus dem Kreis der Jünger Jesu das Unfassbare erkannte: Er ist nicht bei den Toten geblieben. Jesus ist auferstanden und bei Gott.
Aber ich will, wie es sich gehört, mit dem Anfang beginnen. So erzählt man ja eine Geschichte. Auch wenn unser Anfang eigentlich das Ende einer Geschichte war und alle geglaubt hatten, dass man die Jesusgeschichte für immer vergessen könnte. Hatte man Jesus nicht aufs Kreuz gelegt? War er nicht unter die Räder gekommen? Sollte nicht endlich Gras wachsen über die verqueren Gedanken Jesu, der die Friedensstifter seligpries und die, die reinen Herzens sind?
Unsere Geschichte beginnt da, wo andere Geschichten enden. Auf dem Friedhof nämlich. Dorthin hatte man den Leichnam Jesu gebracht. Seinen geschundenen Körper, den die Römer so richtig in die Mangel genommen hatten. Gefoltert und gekreuzigt hatte man ihn – Friedhofsruhe sollte herrschen. Nichts da mehr mit „Selig sind die Sanftmütigen“ – so hatten es sich die Gegner Jesu gewünscht!
Nur eine Frau hatte die Sache Jesu noch nicht abgehakt. Ihr spukten noch die grauenhaften Bilder im Kopf herum, die sie zwei Tage zuvor mit ansehen mußte. Das heißt, sie musste sie nicht mit ansehen; sie hätte auch fliehen können wie alle anderen Freunde Jesu. Maria machte sich aber nicht aus dem Staub. Sie hatte ihm einfach zu viel zu verdanken: Lukas schreibt, Jesu habe ihr sieben böse Geister ausgetrieben, d.h. er hatte sie von einer schlimmen seelischen Krankheit geheilt. Ja, aus Dankbarkeit heraus blieb sie bei ihm. Sie folgte dem Wanderprediger Jesus nach und „diente ihm mit ihrer Habe“; das heißt, sie unterstützte Jesus mit ihrem Geld. Diese Maria hatte allen Grund, zum Friedhof zu gehen und den toten Jesu zu betrauern. Sie konnte die Sache Jesu einfach nicht zu den Akten legen.
Was aber dann auf dem Friedhof geschah, konnte sie beim besten Willen nicht voraussehen. Diese Ostergeschichte ist nämlich gespickt mit Merk-würdigkeiten. Ja, Merkwürdigkeiten. Ich will erklären, was ich damit meine: Das erste Mal hätte Maria aufmerken müssen, als sie - in das Grab hineingebeugt - zwei Engel in weißen Gewändern sah. Meine Güte, man sieht nicht alle Tage einen Engel, geschweige gleich zwei!
Aber nein. Für diese Engel hat Maria keine Augen. Sie sieht die Engel, aber sie erkennt sie doch nicht. Die Engel berühren sie nicht. Sie dringen nicht zu ihr vor, weil Maria offenbar mit ihren Gedanken ganz woanders ist. Sie hängt dem Vergangenen nach. Sie erinnert sich vielleicht an die bewegenden Momente, wo alle glaubten: Nun steht das Reich Gottes wirklich vor der Tür. „Hosianna“, riefen die Leute, als Jesus auf einem Esel in Jerusalem einritt. „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Nein, für die Engel hat Maria keinen Blick, weil sie einzig daran denken kann, ihren toten Jesus wieder zu finden.
„Frau, was weinst du?“ fragen die beiden rätselhaften Gestalten die weinende Maria. Eine törichte Frage mag man denken. Denn warum weint wohl eine Frau am Grab? Aus Trauer natürlich! Ja. Eben darum geht es. Alle Gefühle, alles was schmerzt, wo sie enttäuscht ist und wo zerbrochen – alles das muss ausgesprochen werden. Und Tränen müssen geweint werden dürfen.
Das ist heute nicht mehr selbstverständlich, liebe Gemeinde, weil Tränen heute zu stören scheinen. Vor einigen Tagen, bei einer Trauerfeier, ein junger Mann, der zum ersten Konfirmationsjahrgang gehörte, den wir hier konfirmiert haben, 1995, er ist viel zu früh gestorben. Zum Eingang der Trauerfeier hatte sich die Familie ein Lied von Sarah Connor mit dem Titel „Das Leben ist schön“ gewünscht - mit folgender Liedzeile: Ich will keine Trauerreden / Ich will keine Tränen sehen / Kein Chor, der Halleluja singt, nein. / Ich will, dass ihr feiert, ich will, dass ihr tanzt / Mit ´nem lächelnden Blick und n´nem Drink in der Hand / ´N Heißluftballon, auf dem riesen groß steht: /Das Leben ist schön.
Wissen Sie, nachdem wir dieses Lied zum Eingang gehört haben, habe ich der Trauergemeinde in meiner Begrüßung, ich konnte nicht anders, angeboten zu schweigen oder zu gehen. Und dann habe ich die Trauergemeinde gebeten zu tanzen, so wie Sarah es wollte ihn ihrem Lied: Aber niemand hat sich von seinen Bänken erhoben und hat getanzt.
Was sind das für Zeiten, in denen wir leben? Dass wir uns nicht mehr erlauben mögen zu weinen und zu trauern. Und dann diese Bevormundung in den Traueranzeigen: Bitte keine Trauerkleidung tragen. Was sind das für Zeiten, in denen wir mit billigen Liedern ausblenden, wie das Leben auch sein kann: Bitter. Zum Verzweifeln. Himmelschreiend ungerecht. Ja, was sind das für Zeiten, in denen Tränen einer Widerstandshandlung gleichkommen?
Aber kehren wir zu Maria zurück. Sie antwortet auf die Frage der Engel, warum sie weinen würde: „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass er es ist.“ Ist das nicht merk- würdig? Ohne Grund scheint sich Maria umzuwenden und schaut aus der Höhle heraus ins Licht. Ob sie etwas gehört oder gespürt hat, dass hinter ihr jemand gekommen war? Jedenfalls: Maria erkennt den Auferstandenen noch nicht, weil der sich noch nicht zu erkennen gegeben hat. So nimmt sie an, dass es der Gärtner sei, der auf dem Friedhof nach dem Rechten sieht.
Und auch von diesem Unbekannten kommt wieder diese scheinbar törichte Frage: „Frau, was weinst du?“ Zum zweiten Mal wird Maria in Frage gestellt, und zum zweiten Mal antwortet sie mutig: „Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen.“ Maria ist noch gefangen in ihrer Trauer, in der Vergangenheit und ihrem Schmerz. Noch geht ihr Blick im wahrsten Sinne des Wortes ins Leere, ins leere Grab nämlich. Jesu Leichnam wieder dorthin zu bringen – damit wäre sie in ihrer Trauer schon ein wenig getröstet. Eine begrabene Hoffnung ist leichter zu ertragen als die bohrende Ungewißheit.
Doch mit einem Mal wird alles anders. Nur ein Wort fällt. Nur ein Name wird ausgesprochen: „Maria!“. Der angebliche Gärtner spricht die Frau aus Magdala mit ihrem Vornamen an. Er weiß, wer sie ist. Und ebenso weiß Maria in diesem Augenblick, wer da vor ihr steht.
Mit einem Mal wird alles anders. Es heißt ein zweites Mal: „Da wandte sie sich um.“ Das ist schon merkwürdig: Hatte Maria sich nicht bereits umgewandt? Wendet sie sich nun wieder von ihm ab? Nein, das glaube ich nicht. Ich vermute, Johannes, der die Geschichte erzählte, wollte mit dieser „doppelten Wende“ andeuten, dass Maria zunächst gesehen und doch nicht erkannt, dass sie gehört, und doch nicht wahrgenommen hatte.
Nach der äußeren Wende musste eine innere Wende kommen, die ausgelöst wurde durch die Anrede des Auferstandenen. Hier geschieht, was der Prophet Jesaja als Gottes Wort an Israel bezeugt: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!“
„Rabbuni! Meister!“, sagt sie schließlich überrascht. Wörtlich übersetzt: „Mein Großer, mein Lehrer!“ Freut sie sich, das Jesus wieder da ist?
Erwartet sie, dass er seine Tätigkeit als Lehrer und Wunderheiler wieder aufnimmt?
Hofft sie, dass nun alles wieder so sein wird, wie es in der Zeit vor der Kreuzigung Jesu gewesen war?
Nein, keine Fragen kommen ihr über die Lippen. Maria spürt allein den Wunsch in sich, ihren Jesus, in den Arm zu nehmen - als wollte sie nachprüfen, begreifen, ob ihre Augen sie nicht etwa täuschen. Manchmal brauchen wir keine Worte, oder wir haben keine Worte parat. Dann hilft es, den anderen in den Arm zu nehmen. Vielleicht wollte sie ihn mit ihren Händen gleichsam festhalten. Wie auch immer: Maria von Magdala ist glücklich! Wer kann ihr das verdenken?
Doch nun folgt der zweite, unmittelbare Schock: „Rühr mich nicht an“, sagt Jesus zu ihr. Bleib mir vom Leib! Der Herzenswunsch von Maria bleibt unerfüllt! Das ist doch unbegreiflich: Jesus ist da, und doch ist er ein anderer geworden. Maria hat ihn im Blick, und doch ist er zugleich so unnahbar. Unberührbar. Ihr Rabbuni ist einer, der Abstand hält.
Maria hätte allen Grund, abermals zu weinen. Sie erkennt: Jesus ist da, aber ist nicht „einfach wieder der Alte geworden“. Der Auferstandene, der jetzt als der Lebendige vor ihr steht und sie mit ihrem Namen anspricht, ist verwandelt in eine andere Gestalt gekleidet.
Liebe Gemeinde, Maria, die an diesem ersten Ostertag vor dem Grab dem Auferstandenen begegnet, ist offenbar in keiner besseren Lage als wir alle, als alle Christen bis zum heutigen Tag. Der von den Toten Auferstandene läßt sich nicht berühren. Es gibt keinen „Jesus zum Anfassen“. Es gibt keinen Jesus, der fotografiert oder gefilmt werden könnte. Jesus hat sich entzogen; wer ihn fassen will, der bekommt zu Antwort: „Rühr´ mich nicht an!“ Es ist nicht zu fassen, was damals in Maria und den vielen anderen Jüngern diese Kehrtwendung vom Tod zum Leben bewirkt hat. Wir wissen nur mit Sicherheit, dass sie vom Friedhof ins Leben gegangen sind mit dem Wissen. Jesus lebt,
„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Diese Worte wird Jesus später zum sogenannten ungläubigen Thomas sagen. Wir sollen uns die Botschaft von der Auferstehung zu Herzen nehmen und ihr vertrauen. Es gilt eben nicht: „Ich glaube nur, was ich sehe“. Die Geschichte der Maria Magdalena zeigt uns, dass wir offenbar das Entscheidende nicht mit unseren Augen sehen können.
„Rühre mich nicht an.“ Ostern macht Jesus also nicht dort weiter, wo er ein paar Tage zuvor aufgehört hatte. Nein, zu Ostern, hat etwas grundlegend Neues begonnen. Nicht nur für Jesus selbst, sondern vor allem für die, die zu ihm gehöre: Das grundlegend Neue beginnt für Maria mit dem Auftrag, den sie von Jesus erhält. Sie soll ihren Mund aufmachen. Die Botschafterin der Auferstehung Jesu soll zu seinen Freunden gehen, damit die verstehen, dass Jesus zu seinem Vater hinaufgeht.
Aber hören wir noch einmal genau hin: „Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater“, sagt Jesus. „Ich fahre auf zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ Jesu Worte sprechen noch von etwas anderem als nur von einer Ortsveränderung. Jesus macht seine Freunde durch seine Worte zu Geschwistern. Der Abstand zwischen Gott und uns, der Abstand zwischen Jesus und uns wird durch Ostern nicht etwa vergrößert, sondern im Gegenteil, verkleinert. Das ist die Botschaft, die Maria weitersagen soll. Ostern macht uns zu Geschwistern Jesu.
Gott sei Dank. Maria Magdalena begreift sofort, was ihre Aufgabe ist. Sie braucht keine weiteren Erläuterungen. Nein, Maria von Magdala verkündigt: „Ich habe den Herrn gesehen.“ Nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums beginnt die Kirche, mit der Predigt einer Frau. Ihre Predigt heißt:
Vertrau nicht blindlings deinen Augen,
denn du kannst mit ihnen sehen und doch das Wichtigste übersehen.
Vertrau auch deinen Ohren nicht bedingungslos, denn du kannst hören, ohne das Wesentliche wahrzunehmen.
Vertraue aber darauf, dass Du eine Tochter, ein Sohn Gottes bist, dem das Leben blüht, weil die Auferstehung Jesu nur der Anfang ist. Geh, und verschweige auch anderen diese Hoffnung nicht. Frohe Ostern.