Kolumne Celle – ein Gedicht, Folge 16: »Asphalt-Tom«
- CELLEHEUTE
- vor 2 Stunden
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Von Adson Ulkner Schertz
Es verschlägt mich nicht oft an die Hasenbahn und zu jenem 1975 eröffneten Einkaufszentrum, das dort angesiedelt ist (und das ich, obwohl es längst anders heißt, noch immer »Real-Kauf« nenne). Aber manchmal eben schon. Erstens ist daran wieder einmal ein nostalgisches Ziehen im Sonnengeflecht schuld, denn als Kind habe ich im Bereich zwischen Marienwerderallee und Krähenberg gewohnt – und damit ja auch recht nah an der Hasenbahn. Zweitens schnacke ich gern ein wenig mit Tom, der vor den Schiebetüren zur Supermarkthalle neben seinem Erwachsenendreirad sitzt und das Straßenmagazin »Asphalt« verkauft.

Tom wurde 1963 in Halberstadt (also in der DDR) geboren, wo er nach der Schule eine Lehre als Ausbaumaurer begann. Bei einem Fluchtversuch wurde er an der Grenze zur BRD einkassiert und verbrachte von 1983 bis 1984 ein knappes Jahr in Haft. Seine Ehe ging in die Brüche. Die daraus hervorgegangene Tochter – heute 36 Jahre alt – hat er kaum je gesehen. Genaueres und allerlei Meinungsstarkes und Mahnendes kann man in seinen unter dem Titel »Bankgeflüster« selbstpublizierten Büchern nachlesen. Tom ist ein ruhiger Geselle, freut sich aber über gute Gespräche. Viele solcher Art ergeben sich nicht, und auch die Zahl der Magazin-Käufer ist eher klein. Also liest Tom nicht selten in Unterhaltungsromanen oder in einem seiner eigenen Bücher. Wenn uns die Konversationslust ausgegangen ist, sitzen wir mitunter einfach so nebeneinander da, das grelle Neonröhricht der Einkaufshalle im Rücken, und schweigen den vor uns liegenden Parkplatz an und die vielen schlecht geformten Kraftfahrzeuge, die in den 1960ern und 1970ern noch sehr viel besser ausgesehen hatten.
Asphalt-Tom
Im weißen Einkaufszentrumsquader
stapeln sich die Warenmassen.
Es neonröhrt, und Kaufgeschwader
branden an den Klang der Kassen.
Und vor dem Supermarktgewühle
an der Celler Hasenbahn
sitzt Asphalt-Tom in Winterkühle,
quasi wie ein Leguan,
so scheinbar stoisch still gelassen,
zählt im Schädelschrank die Tassen.
Sein Lächeln wirkt nicht wahrhaft heiter;
wälzt wohl in sich schwere Lasten.
Er wartet, liest – und wartet weiter.
Gute Frage: Ja, auf was denn?
Vermutlich doch auf etwas Gutes –
nur: Wer tut es?
Als wir jetzt an diesem einen Tag im Dezember dieses Jahres so nebeneinander dasaßen, wuwei-mäßig in uns gekehrt, im Einklang mit dem Fluss des Dao, passierte plötzlich – potzblitz! – dies:
Über dem vollgestellten Parkplatz des weißgetünchten Einkaufzentrums riss – ritschratsch! – jäh der Himmel auf (dieser trüblich graublau angewinterte), und glühend schoss ein Objekt aus der rotorangefarbenen Läsion im Firmament. Mit Macht meteoritete es, einen langen, bogenförmigen Schweif hinter sich herziehend, auf den hiesigen Parkplatz zu. Unsere Münder und unsere Augen weiteten sich zu staunenden Os. Immer näher schoss das Glühding heran. Wurde größer und größer. Eine Feuermurmel wuchs zur Kugel zum Ball zum Felsblock. Und ein Rauschen wurde zum grimmen Grollen. In uns kämpften Entsetzen und Faszination mit harten Bandagen gegeneinander. Weshalb wir nicht flüchteten, sondern wie angewurzelt waren. Mutmaßlich Millisekunden vor dem Einschlag rissen wir im Reflex die Arme hoch und vor die Gesichter. – Da hörten wir ein sehr, sehr lautes Bremsgeräusch.
Als wir die Arme senkten und die Augen wieder öffneten, stand er direkt vor uns da: der Schlitten des Weihnachtsmanns! Er sah aber ganz anders aus, als wir ihn aus Film und Fernsehen kannten: Es handelte sich eher um eine Art monsterhaft aufgemotzten Streitwagen, der mit allerlei Dornen und Schlitzwerkzeugen bewehrt war. Die vier der martialischen Quadriga vorgespannten Rentiere mit anabolisch-steroiden Riesenköpern fletschten Reißzähne. Qualm entstieg ihren Nüstern, wand sich vorbei an zornroten Augen und verlor sich zuletzt in den samuraischwertscharfen Klingen der silbern schimmernden Geweihe. Und dann sprang der Weihnachtsmann höchstselbst aus seinem Schlitten – gefolgt von sieben Wichteln. Sehr unheilig stand er da, mit verwegenem Verbrecherblick im kampfzerfurchten Gesicht, weinrotes Feinripp-Unterhemd, Bizepse in Melonengröße. In seinen Pranken hielt er ein altertümliches Maschinengewehr (Gatling-Gun), und auch die sieben Wichtel trugen solcherlei Waffen, nur eben in Miniaturform (Gatling-Gunnies).
Schlagartig brüllte der Weihnachtsmann wie ein ratzeputzheiserer Kriegsgott: »Überschall, Überknall, Überfall!«
Schlagartig brüllte der Weihnachtsmann wie ein ratzeputzheiserer Kriegsgott: »Überschall, Überknall, Überfall!« Und die Wichtelschar antwortete in irrem Singsang: »Advent, Advent, ein Einkaufszentrum brennt!« Dann stürmte die Bande grölend auf den Supermarkt zu – hielt aber bei Asphalt-Tom abrupt an und inne! Dieser erhob sich und klatschte sich – ich traute meinen Augen nicht – mit dem Weihnachtsmann-Rambo ab wie mit einem alten Bekannten und Komplizen!
»Da bist du endlich, Bruder!«, raunte Tom. »Ich bin seit 25 Jahren in dieser Stadt. Seit neun Jahren dümple ich vor diesem Markt hier rum. Das war jetzt aber auch allerhöchste Eisenbahn!«
»Wohl wahr, Bruderherz!«, raspelte eisern rau der Weihnachtsmann. »Aber nun bin ich ja hier und bei dir. Lass uns diesen Laden zusammen überfallen, wie in alten Tagen. Und danach kommst du mit, zurück nach Hause. Schluss mit deinem Exil!«
Und in der Tat überfielen also Tom und sein Bruder, der Weihnachtsmann, den Supermarkt an der Celler Hasenbahn, begleitet von diabolisch kichernden Wichteln, und flogen alsdann in ihrer Streitwagen-Quadriga zurück in die Weiten des Himmelgewölbes. Kaum zu glauben, aber wahr. Klar. Und Wunder geschehen. Besonders zu Weihnachten. Oder nein: Man muss sie schon wirken.
Frohes Fest!

An dieser Stelle erscheint vierzehntäglich, jeden zweiten Freitag, die Kolumne »Celle – ein Gedicht« von Adson Ulkner Schertz. Wir gehen davon aus, dass es sich bei dem Namen um ein – nun ja: ulkiges Pseudonym handelt. Die Kolumnentexte landen in analoger Form auf Papier bei uns im Redaktionsbriefkasten. Wir sind bemüht, jeden Text mit einem passenden Foto zu illustrieren. Der ersten Kolumne war als »Autorenfoto« dieses Bild beigefügt.














