CELLE.Es gibt so Tage, da zeigt sich die Herzogstadt Celle von ihrer allerschönsten Seite. Da scheint die Sonne durch die Fenster der Stadtkirche und taucht das beeindruckende Innere in ein samtweiches Gold. Flirrt die historische Altstadt schon am Sonntagmorgen vorfreudig auf den nächsten Abenteuertag auf dem Schützenfest. Wird der neue Pastor der Stadtkirchengemeinde von den neuen Königen der Schützengilde musikalisch begrüßt. Welch ein Empfang für Hagen Mewes!
Draußen hallen noch die Instrumente der Schützen nach, als sich die Gemeinde in der Stadtkirchen ihren Stühlen und Bänken erhebt, um den neuen Pastor willkommen zu heißen. Hinter dem Kirchenvorstand schreitet der 43-Jährige an der Seite seiner Pastorin-Kollegin Elisabeth Schwenke und Superintendentin Dr. Andrea Burgk-Lempart durch die langen Bankreihen und falls Mewes in diesem Augenblick etwas nervös sein sollte, merkt man es ihm nicht an. So ein Vollbart kann die Emotionen allerdings auch gut verstecken. Vorbei an seiner Frau und seinen drei Söhnen betritt er seinen neuen Arbeitsplatz und darf dort erstmal auf der Bank Platz nehmen. Das Wort hat die Superintendentin.
Ihre Einführungsansprache beginnt Andrea Burgk-Lempart mit dem vierten Vers des vierten Kapitels des Matthäusevangeliums: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jedem Wort, das aus dem Munde Gottes geht.“ Es ist die Geschichte von Jesus, „der vom Geist in die Wüste geführt (wurde), damit er von dem Teufel versucht würde.“ 40 Tage und Nächte hat Jesus in der Wüste gefastet, jetzt will ihn der Teufel anstiften, Steine in Brot zu verwandeln, um zu beweisen, dass er tatsächlich der Sohn Gottes ist. „Eine Szene“, beschreibt es die Superintendentin in der vollbesetzten Stadtkirche, „die an Dramatik kaum zu überbieten ist.“
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Das rege zur Frage an, so die Superintendentin, wovon wir dann eigentlich lebten. „Das ist ihr Beruf, lieber Herr Mewes, ihre Berufung: Aus Gottes Wort zu leben, es weiterzugeben und in unsere Gegenwart hinein auszulegen. Das eigene Leben an den biblischen Texten auszurichten und zu fragen, was auf ihrer Grundlage zu den gegenwärtigen Fragen zu sagen ist.“
Später, als Hagen Mewes das Gastgeschenk der Superintendentin – Brot, Käse, Honig und Wein – erhalten hat („Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Aber auch vom Brot.“) und von Dr. Volker Witte im Namen des Kirchenvorstands herzlich begrüßt wurde, tritt er selbst an die Kanzel, um zu seiner neuen Gemeinde zu sprechen. „Ihre Stärken“, hatte zuvor Andrea Burgk-Lempart aufgelistet: „Kreativität, Kollegialität, die Gabe sich zu vernetzen, mit anderen gemeinsam sozialraumorientiert zu arbeiten.“ Doch der Weg, den Hagen Mewes bis zu diesem Sonntag auf die Kanzel der altehrwürdigen Stadtkirche gehen musste, war nicht frei von Hindernissen. Im Gegenteil. Aufgewachsen in den neuen Bundesländern, in einem atheistischen Elternhaus, habe er, so erzählt er es, mit Mitte 20 seinen Halt im Leben verloren, fühlte sich sinnentleert und war ziemlich hilflos auf der Suche nach seinem Platz im Leben. „Mein Leben“, erzählt er in seiner Predigt, „lag wie ein Scherbenhaufen vor mir.“ Zu Fuß sei er irgendwann losgelaufen, den langen Jakobsweg bis nach Santiago de Compostela. Beinahe schon drehbuchartig, dass sich der junge Mann in den ersten Wochen „oft in den Schlaf weinte“, um dann mit jeder Etappe mehr wieder einen klareren Blick zu erlangen. „Ich fasste Vertrauen, wagte es zu vertrauen und lernte auf diese Weise Menschen kennen, die mir halfen, wieder nach vorn zu sehen. Wieder mehr zu sehen als nur Ödnis, Hitze und Sand.“
So wie jenen irischen Priester, der Mewes mit seiner offenen und fröhlichen Art tief bewegte und ihm dabei half, seinen Glauben zu entwickeln. Oder diese junge Frau, mit der der Reisende wanderte und das Essen teilte. „An einem dieser Abende – ich hatte ihr gerade aus meinem verkorksten Leben erzählt – erzählte sie sie mir die Geschichte vom Manna in der Wüste.“ Die Geschichte vom Volk Israel, das von Gott aus der Sklaverei befreit und aus Ägypten heraus in die Wüste geführt wurde, um dort – vor Hunger und Hoffnungslosigkeit verzweifelt – jeden Tag von Gott mit ausreichend Nahrung versorgt zu werden. „Genug für jeden Tag. Doch nie darüber hinaus. Mehr als das, was Gott ihnen gibt, brauchen sie nicht.“ Dass es sich bei dieser Geschichtenerzählerin um jene Frau handelte, die nun, fast 18 Jahre später, als Mutter seiner drei Söhne in der Bankreihe der Stadtkirche sitzt, „erwähne ich nur am Rande“, sagt Mewes und erntet das Lachen seiner Gemeinde. „Entscheidender ist, dass sie mich an diesem Abend spüren ließ, was Glaube wirklich bedeutet. Nicht das Fürwahrhalten und Nachsprechen irgendwelcher theologischer Formeln, auch nicht das Einhalten irgendwelcher religiöser Pflichten. Glauben bedeutet zunächst und in erster Linie: Vertrauen. Vertrauen darauf, dass es dieser Gott, zu dem wir beten, gut mit uns meint, dass er uns an jedem Tag und nur für den Tag das gibt, was wir zum Leben brauchen.“
Als Hagen Mewes von der Kanzel steigt, wirkt seine Predigt noch nach. „Der Mensch ist ein ungemein absurdes Wesen“, eine der vielen Botschaften, die in den ersten Worten des neuen Stadtkirchenpastors steckte. „Wir sind unterwegs“, so hat es Hagen Mewes verkündet, „und ab dem heutigen Tag sind wir es gemeinsam.“
Diese Gemeinsamkeit zeigt sich schon nach dem Ende des Gottesdienstes, als Mewes an der Seite von Elisabeth Schwenke und Andrea Burgk-Lempart viele Hände schütteln muss und sich die Gemeinde anschließend vor dem Eingang an der Stechbahn bei Kaffee und Schnittchen austauscht. Und in weiter Ferne hört man sie noch immer, die Celler Schützen. Aufbruch und Tradition liegen in der Luft. An diesem Tag, da sich die Herzogstadt von ihrer allerschönsten Seite zeigt.
Interview mit dem neuen Stadtkirchen-Pastor
„Celles Fachwerkhäuser sind ein wunderbares Gleichnis für das menschliche Leben“
Hagen Mewes, warum sind Sie Pastor geworden?
Hagen Mewes: Das ist einem irischen Priester zu verdanken, dem ich 2006 auf dem Jakobsweg begegnet bin. Wir waren mehrere Tage lang gemeinsam unterwegs und die Gespräche, das gemeinsame Beten, seine fröhliche Art, von Gott zu reden, mir zuzuhören und mich in dem, was mich bewegte, ernst zu nehmen, berührte mich tief. Mein Glaubensweg begann. Ich erlebte diesen Anfang als eine große Befreiung und schnell wurde mir klar, dass ich zukünftig einem Beruf nachgehen wollte, in dem ich das weitergeben konnte, was ich damals empfangen hatte: Menschen zuzuhören, sie in ihren Fragen und Krisen begleiten, sie annehmen und ernst nehmen. Beten, denken, von Gott erzählen, Dinge in Sprache fassen.
Was bereitet Ihnen bei der Arbeit als Pastor besonders Freude?
Das Gestalten und Halten von Gottesdiensten und Andachten. Die seelsorgliche Begleitung von Menschen. Die Arbeit mit Konfirmand*innen und Jugendlichen. Die Auseinandersetzung mit Glaubens- und Lebensfragen. Ökumenischer Austausch. Und nicht zuletzt kreative Projektarbeit.
Sie leben mit Ihrer Familie seit einigen Wochen in Celle. Was gefällt Ihnen an der neuen Heimat?
Vieles! Die Innenstadt ist toll, genauso wie die ruhigen Wege an der Aller, das vielfältige kulinarische und kulturelle Angebot, das Schloss und natürlich die Stadtkirche. Ich mag die Fachwerkhäuser, weil sie ein so wunderbares Gleichnis für das menschliche Leben sind: Krumm und schief, von Witterung und Widrigkeiten gezeichnet, alles andere als perfekt, und doch bunt und schön. Mir gefallen die kurzen Wege und die Fahrradfreundlichkeit und dass die Innenstadt auch noch am Abend belebt ist. Außerdem sind mir schon in den ersten Tagen so viele Menschen sehr herzlich und freundlich begegnet. Mir gefällt, dass mir bisher kaum etwas nicht gefällt.
Haben Sie schon einen Lieblingsplatz in Celle?
Ich mag den Brandplatz sehr. Seine Stimmung erinnert mich – besonders in den Morgen- und Abendstunden – an eine italienische Piazza. Und ich liebe Italien.
Worauf freuen Sie sich mit Blick auf die ersten Wochen im Amt besonders?
Die Gemeinde näher kennenzulernen. Auf die Konfirmandenfahrt nach Schweden. Auf mein erstes Osterfest in Celle. Und auf den Tag, an dem meine Familie und ich sagen können, dass wir angekommen sind und es eine gute Entscheidung war, nach Celle zu gehen.
Text und Interview:Alex Raack